Ein Moment mit Tschingis Aitmatow

Pia und Aitmatow
Pia und Aitmatow

Ein Moment mit Tschingis Aitmatow – auf der Bank am Issyk-Kul-See

Über Literatur, Kultur und die stille Kraft von Geschichten

Ich hatte nicht erwartet, dass mir auf meiner Reise durch Kirgisistan einem toten Autor tief in die Augen schauen würde. Doch genau das geschah – in Rukh Ordo, einem Kulturkomplex am Ufer des magischen Issyk-Kul-Sees.

Ich war eigentlich gekommen, um den Blick schweifen zu lassen. Um die Berge zu sehen, das Licht über dem Wasser zu genießen, vielleicht ein paar ruhige Bilder einzufangen. Doch dann saß ich plötzlich – wortwörtlich – neben einem der größten Erzähler Zentralasiens: Tschingis Aitmatow.
Bronzen, lebensgroß, auf einer Bank. Und ich? Ich saß daneben. Kamera auf dem Schoß. Lächelnd, beinahe verlegen. Als würde ich ihn gleich etwas fragen wollen.

Wer war Tschingis Aitmatow?

Wenn man Kirgisistan wirklich verstehen will, reicht kein Reiseführer. Man muss Aitmatow lesen.

Geboren 1928 im damaligen Sowjet-Kirgisistan, wurde er mit Romanen wie „Djamila“, „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“ oder „Der erste Lehrer“ zur Stimme einer Region, die zwischen Steppe und Sowjet, zwischen Mythos und Moderne schwankte.

Aitmatows Sprache ist kristallklar. Und zugleich tief. Er erzählt nicht einfach Geschichten – er öffnet Räume. Räume, in denen sich Identität, Erinnerung, Schmerz und Schönheit begegnen.

Er war nicht nur Autor. Er war Brückenbauer.

Aitmatow #2
Aitmatow #4

Rukh Ordo – ein Ort der Begegnung

Der Kulturkomplex Rukh Ordo, gelegen im Städtchen Tscholpon-Ata am Nordufer des Issyk-Kul, ist mehr als nur ein Freilichtmuseum. Er ist ein Ort der Symbole, der Stille, der Fragen.

Fünf kleine Kapellen – für Christentum, Islam, Judentum, Buddhismus und Schamanismus – stehen nebeneinander. Keine Inszenierung, sondern ein sichtbares Zeichen: Koexistenz ist möglich.

Dazwischen: Kunstwerke, Skulpturen, Zitate. Und eben jene Bank mit Aitmatow. Als wäre er noch da. Als würde er uns zuhören, wenn wir über Herkunft, Wandel oder Verantwortung sprechen.

Ich habe selten einen Ort erlebt, der so still und so politisch zugleich war.

Die Kraft der Sprache

Was mich an Aitmatow immer wieder fasziniert, ist seine Fähigkeit, das Große im Kleinen zu erzählen. Ein Blick. Ein Reitweg. Ein Abschied.

In „Djamila“ etwa beschreibt er eine Liebesgeschichte, die gleichzeitig eine Geschichte über Emanzipation, Trauma, Sehnsucht und Hoffnung ist.
In „Der weiße Dampfer“ wird ein Kind zur Projektionsfläche einer ganzen Nation – verloren zwischen Märchen und Realität.
Diese Geschichten sind nicht regional begrenzt, sie sind universell. Und gerade darin liegt ihre Kraft.

Aitmatow erzählt nicht über Kirgisistan – er erzählt durch Kirgisistan.

Was bleibt, ist Verbindung

Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich auf der Bank Platz nahm. Ich hatte meine Kamera umgehängt, wie so oft. Ich wollte eigentlich nur ein Bild – aber es wurde mehr.
Ich sah den bronzenen Blick, diese geprägte Stirn, die ruhige Geste der überkreuzten Beine. Und für einen Moment fühlte es sich an, als würde er da sitzen. Wirklich da.

Als würde er sagen:

„Vergiss nicht, zuzuhören, bevor du urteilst. Und erzähle – aber nicht über, sondern mit den Menschen.“

Vielleicht ist das naiv. Vielleicht romantisch. Aber ich glaube, dass Kultur uns genau das erlaubt: Verbindung, über Zeit und Raum hinweg.
Kulturelle Brücken statt touristischer Schlaglichter
Meine Reise durch Kirgisistan war nicht nur landschaftlich beeindruckend. Sie war eine Lektion.
Nicht nur in Fotografie oder Reisejournalismus. Sondern in Demut. Denn wer einen Menschen verstehen will, muss mehr tun, als seine Sprache zu sprechen oder seine Küche zu probieren. Er muss seine Geschichten hören. Und manchmal – einfach still sein.

Rukh Ordo hat mich leise gemacht. Nicht, weil es laut war. Sondern weil ich verstanden habe, was gute Literatur kann: Sie kann uns an Orte bringen, an denen wir nie waren. Sie kann Brücken schlagen, wo Mauern wachsen. Und sie kann Nähe schaffen – auch dort, wo Kulturen sich scheinbar nicht berühren.

Aitmatow #3
Aitmatow #1

Literatur und Identität in Kirgisistan

Wenn du auf der Suche bist nach mehr als nur Panorama-Bildern vom Issyk-Kul-See oder Tipps für eine Rundreise durch Kirgisistan: Lies Aitmatow.
Seine Werke sind der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis dieser Region. Sie verbinden dich mit der zentralasiatischen Seele, mit einer Geschichte voller Brüche – aber auch voller Hoffnung.
Und wenn du je nach Tscholpon-Ata kommst:
Setz dich zu ihm. Lass dir Zeit. Und hör zu.

Fazit: Ein Autor, der bleibt

Es gibt Autor*innen, deren Werke vergilben. Und es gibt solche, die mit jedem Jahr aktueller wirken. Tschingis Aitmatow gehört zur zweiten Kategorie.

Er schrieb über Ausgrenzung, über innere Zerrissenheit, über das, was bleibt, wenn Ideologien vergehen. Seine Bücher sind keine Denkmäler – sie sind Werkzeuge.

Zum Nachdenken. Zum Verstehen. Zum Fragenstellen.

Ich bin dankbar für diesen Moment in Rukh Ordo.
Und vielleicht ist dieses Bild – eine Frau mit Kamera neben einem Schriftsteller aus Bronze – nichts weiter als eine Geste.
Aber für mich war es eine: Inspiration.
Weiterzuerzählen.

Mein Besuch bei Lesung Aitmatow, 1. Mai 1997 Biedenkopfer Rathaus

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