Wie eine Jurte entsteht – Handwerk, Kultur und Magie in Kirgisistan
Drei Menschen. Drei Monate. Eine Jurte.
Inmitten der Hochweiden Kirgisistans, umgeben von endlosem Himmel und grasenden Pferdeherden, durfte ich eine Familie besuchen, die seit Generationen Jurten in Handarbeit herstellt. Dieses Erlebnis war mehr als eine Reiseetappe – es war eine Zeitreise in ein anderes Verhältnis zur Natur, zum Wohnen und zur Arbeit.
Das Herz der kirgisischen Kultur
Die Jurte ist mehr als nur eine Unterkunft. Sie ist das kulturelle Herz der kirgisischen Nomaden. In ihr wird gelebt, gegessen, geschlafen, gefeiert und gebetet. Die runde Form, das zentrale Dachauge (Tündük) und die kunstvollen Ornamente erzählen Geschichten von Weltordnung, Naturverbundenheit und spirituellem Gleichgewicht.
In der Nationalflagge Kirgisistans ist das Tündük, das zentrale Element der Jurte, stilisiert dargestellt – als Symbol für Heimat, Sonne und Ursprung.
Vom Rohstoff zur Form – der Bauprozess
1. Auswahl und Bearbeitung des Holzes:
Die Familie beginnt mit der Auswahl geeigneter Weidenzweige, die flexibel, robust und leicht sind. Diese werden geschnitten, getrocknet und später über Feuer gebogen, bis sie die typische Form der Jurtenstruktur annehmen: die Gitterwände (Khana), die Dachstangen (Uuk) und der Tündük.
2. Herstellung der Filzdecken:
Schafe sind nicht nur Begleiter im Alltag, sondern liefern die wichtigste Ressource: Wolle. Diese wird von Hand gewaschen, gekämmt, gewalkt und zu dicken Filzdecken verarbeitet. Der Filz schützt im Winter vor Kälte und im Sommer vor Hitze – ganz ohne Technik.
3. Dekoration und Symbolik:
Die Tür, das Dachauge und die Verbindungsstücke werden bemalt – meist in Rot- und Orangetönen, mit traditionellen Symbolen für Glück, Schutz und Zusammenhalt. Jede Familie hat ihre eigenen Muster.
4. Aufbau und Zeremonie:
Der Aufbau einer Jurte ist ein kollektives Ereignis. Das Tündük wird als erstes aufgerichtet, dann folgen Dachstangen und Wände. Ist alles verbunden, werden die Filzdecken darübergelegt. Der Moment, in dem das Licht durch das Tündük fällt, ist magisch. Oft begleitet von Gebeten oder Gesängen.
Warum eine Jurte ein nachhaltiges Zuhause ist
Jurten sind vollständig biologisch abbaubar. Sie benötigen keine Nägel oder Schrauben. Sie lassen sich abbauen, transportieren und wiederaufbauen – im Rhythmus des Lebens. In Zeiten globaler Klimakrisen ist dieses Wissen aktueller denn je.
Die Struktur ist erdbebensicher, windstabil und isoliert ganz ohne Strom. Für viele moderne Architekten ist die Jurte längst ein Vorbild nachhaltiger Baukunst.
Begegnung mit den Erbauer:innen
Die Familie, die ich besuchte, lebt in einfachen Verhältnissen – aber mit großem Stolz auf ihre Arbeit. Vater, Mutter und Sohn arbeiten Hand in Hand. Ich durfte mit ihnen Schafwolle walken, Filz trocknen und beim Bemalen der Tür zusehen.
Sie erzählten von den Jurten, die sie für andere Familien, für Gästehäuser und Festivals gebaut haben – und davon, wie ihr Wissen langsam weniger wird, weil viele junge Leute in die Stadt ziehen.
Doch sie gaben mir auch Hoffnung: Sie wollen ein kleines Schulprojekt starten, um ihre Techniken an Kinder aus dem Dorf weiterzugeben.
Ein Zuhause, das atmet
Eine Jurte ist keine starre Hülle. Sie lebt mit dem Wind, dem Licht und den Jahreszeiten. Sie riecht nach Holz, Filz und Feuer. Sie ist ein Ort der Geborgenheit, des Miteinanders und der Verbindung zur Natur.
Fazit
Der Besuch bei dieser Familie war eine meiner eindrucksvollsten Erfahrungen in Kirgisistan. Ich habe nicht nur gelernt, wie man eine Jurte baut – ich habe gelernt, was sie bedeutet.
In einer Welt, in der wir oft mehr besitzen, als wir brauchen, zeigt uns die Jurte, wie wenig es braucht, um reich zu sein: Zeit, Geschick, Gemeinschaft – und ein Zuhause, das atmet.







