Was bedeutet es, ein Land zu bereisen, das man bislang nur aus der Literatur kennt?
Für mich beginnt diese Reise „ins Herz der Geschichten“ nicht mit dem Kofferpacken, sondern mit Worten. Seit meiner Jugend begleitet mich die Stimme von Dschingis Aitmatow – jener kirgisische Autor, der in der Sowjetunion bekannt wurde, ohne je den poetischen Kern seiner Heimat zu verlieren. Seine Bücher waren Fenster in eine andere Welt: rau, schön, melancholisch. Eine Welt voller starker Frauenfiguren, stiller Helden, unendlicher Steppen und überlebensgroßer Fragen.
Jetzt, Jahrzehnte später, gehe ich durch diese Landschaft. Nicht als Touristin, sondern als Suchende.
Literatur als Landkarte
Aitmatows Geschichten haben sich in mir verankert wie geografische Koordinaten: Das Tian-Shan-Gebirge ist mir vertraut aus „Der erste Lehrer“. Die Seelenlandschaft um den Yssykköl-See schimmert durch „Djamila“. In „Der weiße Dampfer“ und „Frühe Kraniche“ schwingt ein zartes Heimweh mit, das mich heute, vor Ort, stärker denn je berührt.
Ich bereise Kirgisistan mit einem inneren Kompass, der nicht nach Himmelsrichtungen, sondern nach Erzählungen ausgerichtet ist.

Eine individuelle Reise, begleitet von Geschichten
Am 29. Mai hat meine Reise begonnen. Von Bischkek aus geht es über weite Hochebenen, karge Pässe und fruchtbare Täler. Ich übernachte in Jurten, bei Gastfamilien, in schlichten Häusern. Meine Etappen sind so vielfältig wie das Land: der kristallklare Yssykköl, das wilde Naryn-Tal, abgelegene Dörfer nahe der chinesischen Grenze.
Begleitet werde ich von einer täglichen Countdown-Serie – literarisch, fotografisch, gedanklich. Jeden Tag teile ich ein Zitat von Aitmatow, eine Beobachtung aus dem Alltag oder einen Moment der Begegnung. Es geht mir nicht um touristische Highlights, sondern um Nähe, um echte Eindrücke. Um das, was bleibt.
Das „thauwald-journal“ – ein Raum für Reise, Erinnerung und Resonanz
Diese Reise ist mehr als eine Route. Sie ist ein Projekt, das ich lange mit mir getragen habe: ein Raum, in dem Reisen, Literatur, Fotografie und soziale Beobachtung zusammenfinden. Das „thauwald-journal“ ist mein persönliches Archiv dieser Erfahrung – aber auch eine Einladung an andere, mitzugehen. Nicht physisch, sondern gedanklich. Mit dem Herzen.
Unterstützt werde ich auf dieser Reise von Ulan Turganbaev (EcoNomad, www.eco-nomad.com), einem klugen, tief vernetzten Kenner seines Landes, der versteht, wie bedeutsam solche Begegnungen sind. Ohne ihn wäre vieles nicht möglich gewesen – und manches nur halb so tief. Er hat alle meine Wünsche möglich gemacht und mich mit den Giudes Arslan und Uluk sowie Alym, dem wunderbaren Fahrer, unglaublich gut ausgestattet. Herzlichen Dank dafür.
Zwischen Wort und Wirklichkeit
Was passiert, wenn man ein Land betritt, das man bereits in Bildern und Sätzen kennt? Man vergleicht. Man staunt. Man entdeckt neu. Und manchmal – erkennt man sich selbst darin.
Kirgisistan ist nicht das romantisierte Land aus Jugendlektüre. Es ist komplex, widersprüchlich, herzlich, herausfordernd. Aber genau das macht es so reich. Es verlangt Langsamkeit, Offenheit, Geduld. Und es schenkt Geschichten zurück, die kein Roman ersetzen kann.
So beginnt meine Serie. Mit leisen Tönen. Mit Schwarz-Weiß-Bildern. Mit offenen Augen und dem Wunsch, nicht nur zu sehen – sondern zu verstehen.
Zitat
„Heimat ist nicht der Ort, sondern die Erinnerung.“
– Dschingis Aitmatow